Beerdigung
Weißer Schnee fiel von den Wolken als ich den Friedhofsweg entlang zur Kapelle schritt. Der blendende Schnee überdeckte die unendliche Gräue, die diesen Tag verschlang. Immer wieder hörte ich Stimmen flüstern, doch sobald ich mich umsah, war alles verstummt. Fast meinte ich schon zu glauben, sie kämen von den Raben, die auf den Grabsteinen und der Kapelle saßen, als erwarteten sie eine festliche Mahlzeit. Eine seltsame Aura durchströmte die Luft und ich beschuldigte diese daran, weder zu wissen, weshalb ich zu der Beerdigung ging, noch um wen es sich handelte. Es zog mich einfach an, ich musste dorthin.
In der Kapelle herrschte kein Schweigen, kein leises Schluchzen, wie ich es erwartet hatte. Die wenigen Menschen, die da waren, saßen entweder vereinzelt auf den Bänken oder standen in kleinen Grüppchen im Raum verteilt beisammen, redeten, diskutierten und spaßten herum. „Wer hat verdient eine solche Trauerfeier zu bekommen? Was muss der Tote getan haben?“, dachte ich, während die flüsternden Stimmen immer lauter wurden, stürmischer, je näher ich dem Sarge am Ende des Raumes kam. Ich schaute zu ihm, versuchte den Menschen, der dort lag, zu erkennen, doch wie eine unsichtbare Mauer, an der man abprallt, weigerten sich meine Augen etwas zu sehen. Selbst den kleinen Jungen, der davor stand, erkannte ich nicht. Plötzlich verfestigte sich ein Flüstern, es war eine Frau. Ich ersuchte ihre Stimme und sobald ich sie fand, schossen Bilder von ihr durch meinen Kopf wie sie blutend am Boden lag, blaue Augen, zitternd. Sie schien mich auf einmal anzusehen, ich wollte auf sie zugehen, doch dann wendete sie sich ab. „Was ging hier nur vor sich?“ Ein weiteres Flüstern lachte laut auf und durchhallte die Kapelle. Es war ein Mann mit breiter Statur, bei dessen Anblick man sich schon winzig fühlte, neben ihm eine schmächtige Frau, deren Hand seine Schulter berührte und deren kurze, verängstigte Blicke zum Sarg.
Jedes Flüstern verfestigte sich, gehörte einer Person im Raum, sie redeten über alltägliche Dinge, nur selten wurde der Tote erwähnt und wenn, war es kein Mitleid. Fast war ich am Sarg, wurde nervös, begann zu schwitzen. Die Raben vor dem Fenster schienen mich zu beobachten, ich legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und während er sich umdrehte, wich ich entsetzt zurück, schlug die Hände vor den Mund. Der ganze Saal schwieg, blickte zu uns auf mit kaltem Blick. Sprachlos stand ich da. All die Wahrheit lag in seinen unschuldigen Augen.
Er blinzelte.
Ich sehe die junge Frau, ich schlage sie ins Gesicht, immer und immer wieder, beleidige sie, obgleich sie schon wehrlos am Boden liegt, blutend mit blauen Augen, zitternd.
Wieder blinzelte er.
Ein breit gebauter Mann mit rotem Kopf und großen schwarzen Augen beugt sich über mich als kleinen Jungen, die schmächtige Frau umklammert weinend seinen Arm, zieht ihn zurück. Seine kalte Hand trifft meine Wange, um daraufhin die Frau zu packen und zu Boden zu stoßen. Ich habe so furchtbare Angst, nicht nur um mich, sondern um Mutter, selbst um… „Vater!“, schrie ich durch die Kapelle. Mein Körper zitterte, Schweißperlen rannen mir von der Stirn, der Junge starrte mich schweigend an, während alle anderen den Blick abgewendet hatten, wieder diskutierten und spaßten und ich trotzdessen nur ewige Stille vernahm. Er starrte mich schweigend an und zeigte auf den offenen Sarg. Ich schüttelte verängstigt den Kopf, ich wollte nicht sehen, von dem ich wusste, was es war. Der Junge zog den Arm ein, um daraufhin nur noch energischer den Arm und den Finger auszustrecken. Leichenblass wendete ich meinen Blick zögerlich auf den Sarg, riss die Augen weit auf, mein Atem stockte und schluchzend sank ich auf die Knie. Niemand anders wurde so gehasst, niemand anders so gefürchtet, niemand anders lag dort als mein eigenes Selbst. „Nein!“, schrie ich. „Nein, das ist unmöglich, das bin nicht ich!“ Der Sarg wurde geschlossen und hinausgetragen, die Menschen liefen hinterher. Verzweifelt rannte ich hinaus, packte einen nach dem anderen, mal war es meine Tante, mal mein Cousin, mein Vater, meine Frau, schüttelte sie, in der Hoffnung ihre Erinnerungen würden aus ihnen herausfallen. „Das bin nicht ich, ich lebe, ich bin nicht so wie der in diesem Grab!“ Doch keiner schien mich zu bemerken, liefen immer weiter den Friedhofsweg entlang. Alles Schütteln half nichts, ich schrie und heulte, raufte meine Haare und schlug die Hände vors Gesicht, bis ich in den grauen Himmel blickte. Das war kein Schnee, der vom Himmel fiel, das war reine dreckige Asche. Gleichzeitig weinend und lachend sackte ich zu Boden, legte den Kopf vornüber in die Asche meiner Schuld, meines Lebens, meiner Selbst, und weinte. Der kleine Junge ging neben mir in die Knie und legte seine kleine Hand auf meinen gekrümmten Rücken. Ein unbändiger Hass durchfuhr mich, sodass meine Hand die Wange des Jungen traf und dieser ausdruckslos zu Boden fiel. „Das ist alles deine Schuld, du hast dich nie gewehrt, immer verängstigt und klein!“, mein Atem wurde schneller und schließlich schrie ich: „Sieh nur, was du aus mir gemacht hast! Du hast alles verloren, nur weil du so feige, so naiv warst! Heute habe ich dem endlich ein Ende gesetzt, du verdienst nicht länger zu leben!“ Kurz schloss ich meine Augen und als ich sie wieder öffnete, befand ich mich in meiner Wohnung - alleine. Während es draußen Asche schneite, setzte ich mich aufs Bett und starrte den kleinen Jungen an, der treu vor mir auf dem Boden saß und niemand anders als ich selber war.
„Ich habe alles verloren, es gibt nichts mehr für mich, weil du alles zerstört hast. Ich beende nun diese Grausamkeit, die du mir angetan. Ich habe mich heute selbst begraben.“
Und so lebte ich nicht mehr.
© Paola Baldin