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Das schwarze Meer


„Gleich ist es soweit.“, sagte sie mit aller Sänfte, die sie in ihrer Stimme hatte. Ich blickte geradeaus über das weite blaue Meer, dessen Wellen bedrohlich und laut über die Felsen hereinbrachen, doch ich hörte nur bedrückende Stille. Warme Brisen schienen durch mich hindurch zu hauchen und ließen ihre Haare über mein Gesicht streichen – ich vernahm den Duft von Rosen –, während wir nebeneinander auf der Bank saßen, ohne einen Blick auf den anderen zu riskieren. Sie schaute hinauf zur Sonne, die von einer grauen Wolkenschicht bedeckt war. Nicht einmal das konnte sie noch ein letztes Mal genießen, im Augenwinkel sah ich eine einzelne Träne zu Boden glitzern. Regungslos saßen wir eine gewisse Zeit so da, blickten in die unendlichen Weiten des Horizonts. Als sie schließlich aufstand, verwandelten sich die warmen Brisen in einen so heftigen Sturm, sodass mein Hut hinfort flog und ich frösteln würde, könnte ich es.

Dann, als erwartete sie Widerrede meinerseits, sagte sie mit voller Überzeugung: „Ich muss gehen, genau aus dem Grunde, dass ich dich liebe.“

Ich fasste auf meine Wangen, doch spürte keine Nässe. Sie trat einen Schritt ins Meer, setzte ein Fuß vor den anderen. Mit jedem Schritt kam sie der Unendlichkeit näher, und diese nährte sich von Dunkelheit. In der weitesten Ferne sah ich sie ein letztes Mal, bevor das Meer sie verschlang und die Welt sich in Finsternis hüllte.

Ich stand auf, bewegte mich auf das Wasser zu. Weder Wind, noch Wellen, nur Stille. Gebückt fasste ich in das Meer, das in meinen Händen viel zu dunkel erschien, und strich es über meine Wangen, schmeckte auf meinen Lippen die salzige Finsternis. Lange blieb ich dort sitzen, doch wie hell es auch wurde, das Meer ruhte im Dunkeln.

So entstand das Schwarze Meer, das in mir keine Wellen mehr schlug.

© Paola Baldin

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