Die Mauern, die wir zu spät einreißen
Ich erinnerte mich, dass es regnete. Es war dunkel und es regnete, als sie vor mir stand, durchnässt, ihre Schminke verschmiert und mit Tränen, die sich im Regen verbargen. „Ich liebe dich.“, sagte sie mir. „Ich liebe dich. Ich liebe dich!“ Sie sagte es immer wieder und jedes Mal betonte sie ein anderes Wort, doch letztendlich floss es unweigerlich zusammen. Keines dieser Worte erklomm meine Mauer aus Verbitterung. Nicht einmal ihre zitternden Lippen, nicht einmal ihr verzweifeltes Lachen, nicht einmal die Art wie sie mich ansah. Ich erwischte sie sogar bei dem Versuch, meine Mauer vollkommen zu durchbrechen anstatt sie weiter zu erklimmen. Erfolglos. „Verstehst du es denn nicht?“ Ihr Gesicht sah aus, als wolle es in tausend Teile zerspringen. „Ich liebe dich für deine Art mich zu umarmen, mich bei dir zu wissen. Ich liebe dich für all die Stunden, die du mir widmest, obwohl du vielleicht nicht die Zeit hast, aber dennoch bist du jederzeit für mich da und weichst kein Stück von meiner Seite, erträgst meine Launen. Ich liebe dich für dein Aussehen und das Lächeln, das du mir Tag für Tag schenkst. Ich bin bei dir und ich fühle mich gehalten, als könne mir nichts und niemand etwas anhaben, als könnte ich die Welt umarmen. Ich liebe dich, jede Sekunde, jede Minute, 24 Stunden am Tag, in der Nacht, einfach immer! Manchmal fühlt es sich an als sei ich krank, ja nenn es von mir aus liebeskrank, aber ich bin es und auch dieses Gefühl liebe ich, denn es gibt mir selbst die größte Vorfreude, dich nach nur wenigen Stunden wieder zu sehen und lähmt mich für jedes noch so kleine Übel am Tag, solange ich weiß, dass es dich gibt und dass ich dir immer aufs Neue begegnen werde. Du bist einfach so wunderbar und Räume werden ganz hell, wenn du sie betrittst, du steckst uns alle mit deinem Lachen an und gibst mir das Gefühl, dass rein gar nichts schlimm sein könnte. Selbst wenn du mich wie jetzt so nachdenklich ansiehst, bist du so süß, dass ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen kann.“ Durch ihre Verzweiflung hindurch hörte ich ein wahrlich fröhliches Lachen und der Funke Hoffnung in ihren Augen zerriss mich schier, als ich sie lange ansah, während sie meine Hände nahm, so weich und warm trotz kaltem Regen, eine lange Stille folgte, drückend und kreischend, und mir langsam und heiser das so trotzige Wort entglitt. „Nein.“ Ich konnte deutlich sehen wie der Funke erlosch, sich Entsetzen breit machte und ich sah Lippen, die unkontrolliert zitterten. Und ich – ich stand nur da, kalt, unfähig ein weiteres Wort herauszubringen als ein armes 'Nein'. Alles in mir schrie und kämpfte gegen mich an, doch davon war wohl nichts zu sehen, denn sie wich zurück, stammelte etwas vor sich hin und in der Dunkelheit des Regens lief sie davon. Ich blieb zurück, hasste mich mehr denn je und wünschte mit all dem Regen unterzugehen.
Dieses Gefühl zog sich über Wochen hinweg, ich fühlte mich elend und immer wieder musste ich an jenen Tag denken. Besonders heute hatte sich die Erinnerung wie ein Virus in meinen Kopf gepflanzt, mit dem Zwecke mich zu quälen. Das alles war nicht einfach, ich war nicht einfach und ich machte es Elise auch nicht leichter damit. Sie blieb nach alledem an meiner Seite und ich fragte mich immer wieder, wie ich das nur verdient hatte. Wäre sie klug, würde sie flüchten, weit weg von mir. Stattdessen traf sie mich fast jeden Tag, verbarg ihre Scham, ihre Enttäuschung, um mit dem einzig wahren Verursacher ihre Zeit zu verschwenden. Ich verstand sie nicht, noch weniger verstand ich aber mich selbst und warum ich mir das überhaupt antat. Man sagt, die Liebe sei so einfach, präzise und frei, doch ich wusste, dass es nicht so war. Bevor ich Elise kennengelernt hatte, gab es düstere Kapitel in meinem Leben, die ich verbannt hatte, vergessen oder viel mehr verdrängen wollte. Ich lernte einst die Liebe kennen, ihr Gefühl zu täuschen. Was bringt sie dir, wenn du alles für sie aufgibst und der geliebten Person dein ganzes Leben blind in die Hände legst wie eine geladene Waffe, die auf dich zielt, um letztendlich genau mit dieser erschossen zu werden, in einem Moment der Unachtsamkeit? Genau. Es bringt dir ein Loch im Herzen. „Aiden, was machst du noch hier? Du hast längst Feierabend!“, witzelte mein Kollege, während er mir lachend auf den Rücken klopfte. Tatsächlich war es schon nach 16Uhr und ich musste mich beeilen. Schnell packte ich alles zusammen, warf mir die Jacke über und eilte zu Elise. Zu 'unserem speziellen Ort', wie sie es gerne sagte. Dort hatten wir uns kennengelernt, es war der perfekte Ort um alleine zu sein, nachzudenken und zu oft machte ich Gebrauch davon. So war ich an einem dieser Tage nicht derartig allein wie ich wohl dachte. Elise liebte die Herbstbäume, die dort wuchsen, und wie schön sie erst zu blühen begannen, als alles andere längst verwelkt war. Sie sagte, sie bringen wenigstens ein bisschen Farbe, ein bisschen Hoffnung, in solch Jahreszeit. All das träumerische Gerede von leuchtenden Herbsttagen und bunten fröhlichen Blättern. Meist war er einfach nur kalt, grau und immerzu regnete es. Heute war es besonders kalt, auch wenn der Wind angenehm warm schien, und wie ich die Strecke entlangging, überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl. Es war als hätte sich die Atmosphäre auf die eine Art oder Weise verändert, die Art wie die Bäume raschelten, wie sich das Gras im Wind bewegte, und es schien deutlich dunkler geworden zu sein. Fast unheilvoll, aber ich dachte nur, dass wohl ein Sturm heraufzog und beschleunigte meine Schritte. Kaum ein Mensch war auf der Straße als ich sie verließ und den Berg hinaufwatete bis ich endlich den Parkplatz erreichte, an dem sie schon auf mich wartete. Von weitem hörte ich Musik, Elise stand mit dem Rücken zu mir gedreht unter einem ihrer Herbstbäume, war ganz auf etwas am Baumstamm fixiert. Sie träumte ständig vor sich hin, so wie ich es einst tat. Als ich es noch konnte. Kurz zögerte ich und überlegte, ob ich sie überhaupt ansprechen sollte, denn sie sah so seltsam zufrieden aus in ihrer Träumerei, wie sie leise vor sich hinsummte. Doch ich konnte mir nicht verwehren in ihr schönes Gesicht zu sehen, und so rief ich sie freudig, riss sie zurück in die Realität, zurück zu mir. „Elise!“ Sie drehte sich um und sofort formten ihre Lippen das breite Grinsen, das ich so sehr an ihr liebte. Ich liebte es, sie strahlen zu sehen, sie lachen zu hören, sie träumen zu sehen. Erst als sie auf mich zulief, mit immer schnelleren Schritten, nahm ich die lauter werdende Musik wahr und es ergab erst dann einen Sinn, als es schon viel zu spät war. Die Zeit war träge, fast unbeweglich, ich sah ihren Blick zur Seite fallen und es war vermutlich nur eine Sekunde, in der sich ihre Mimik veränderte, für mich aber eine Ewigkeit, als auch sie das näher kommende Auto sah, das ihr schon viel zu nah war. Der Ausdruck in ihrem Gesicht, wie der Augenblick der Erkenntnis, wenn man zufällig einer Person begegnet oder sie von weitem ruft, dieser kurze Augenblick, in denen sich der Gerufene umdreht und dessen Blick dann ganz sanft wird, in den Augen ein kleines Strahlen aufblitzt, als hätte man einem durstigen Mann klares Wasser gezeigt. Die Erkenntnis. Doch hier war keinerlei Strahlen mehr, hier war nur noch reines Entsetzen. Mein Herz pochte, ich bekam keine Luft, es gab zu wenig Luft, ich würde ersticken, ich war mir ganz sicher. Ich sah alles, aber es ergab keinen Sinn, wie Bilder, Elise, ihr Blick, keine Zeit zum Schreien, das Auto und Elise, sie vermischten sich und für einen Moment lang waren sie eins. Mit dem nächsten Wimpernschlag saß ich auf dem Boden, wimmernd, ich spürte nur wie ich die Hände an meinen Kopf presste, ich konnte mich nicht bewegen, die Zeit stand still und ich konnte mich nicht bewegen, es gab nichts, das ich tun konnte und innerhalb einer Sekunde war alles so schnell vorbei wie es passiert war. Blaue Blüten regneten wild auf Elise herab, die unter einem der Herbstbäume lag, ich konnte nicht hinsehen und doch zwangen mich meine Augen dazu. Das war nicht echt, das konnte nur ein Albtraum sein, und wenn ich erwachte, ich schwor bei Gott, ich ließe sie nie mehr gehen. Ein langgezogenes Piepsen dröhnte durch meine Ohren, und für einen kurzen Moment befürchtete ich, mein Kopf würde zerplatzen, doch dann war es mit einem Schlag vorüber. Ich sah das Auto nicht mehr, da war kein Auto, das konnte also nicht passiert sein, Elise hatte sich nur unter den Baum gelegt, im Herbst. In der Kälte. Sie war eine Träumerin, das machte also Sinn, oder sie wollte mich erschrecken. Da war kein Auto mehr und keine Musik. Die Blüten bedeckten nach und nach ihren Körper, leise und sanft fielen sie jetzt langsam herab, erschüttert durch den Aufprall. Durch den Aufprall. „Hallo?“, hörte ich auf einmal das Telefon an meinem Ohr. Der Notruf, ich rief den Notruf, während ich allmählich auf Elise zuging, obgleich mich meine Füße kaum trugen. Es war als schrien sie mich an, ich solle bleiben und keinen Schritt mehr tun, ich sollte das nicht sehen, doch ich hatte es satt auf meine Vernunft zu hören, ich wollte nur zu Elise, da war kein Platz für anderes, nur Elise und Elise' Lachen, Elise' Stimme, jeder Gedanke schrie nach meiner Elise, und da war ich nun, kniete vor ihrem bebenden Körper, ihr Gesicht zerkratzt, Blut an ihrem Körper, Blut am Baum, blutgetränkte Blüten, die sie schmückten, Blut, das nun an meinen Händen klebte. Unter ihnen bebte sie noch mehr. „Aid... Ai..Aid..“, stammelte sie, ihre Stimme weit fern, die Augen müde und nass. Elise... Ich zog mich bis auf das Shirt aus, zerriß das Hemd und knotete es wenigstens um die Verletzung am Bein, während es sich blutrot färbte, eine größere Verletzung am Bauch ließ immer mehr Blut ausströmen, ich drückte meine Jacke darauf, aber es quoll einfach hervor, war nicht zu stoppen und dann spürte ich ihren Arm, den sie nach mir ausstreckte, mich von der Wunde fortzog und ich wusste genau warum. „Bleib... bleib bitte hier.“ Ich konnte sie kaum verstehen und legte mich auf den Bauch, sodass ich ich ihr nah sein konnte, in ihre Augen sehen konnte, ihre Hände in die meinen schließen konnte, um nicht einen Atemzug zu verpassen. „Lass mich nicht alleine, Aiden. Ich will nicht alleine sterben.“ „Nein, das wirst du nicht, du wirst nicht sterben, Elise, ich bin bei dir und ich werde immer bei dir sein. Ich verspreche es.“ Meine Stimme versagte und ein Gefühl breitete sich schleichend aber sicher in mir aus, ein Gefühl, dass man nicht mehr an einen früheren Punkt zurückkehren kann, dass man nichts tun kann, nichts beeinflussen. Dass Dinge geschehen, die unabänderlich sind und man diesen einen Moment niemals vergisst. Ihre Augen waren träge, verschwommen durch all die Tränen, und ich befreite sie von den Blüten im Gesicht, das ich so viele Jahre kannte und liebte. Ohne das ich keinen Tag so geschafft hätte wie ich es letztendlich tat. Und so wie sie nun vor mir lag, verletzt, ängstlich und mit zitterndem Körper, da sah ich sie im Regen stehen, völlig durchnässt, mit einem verzweifelten Lachen und einem Blick, den ich nie mehr vergessen würde. All die Jahre, die ich mit ihr verbringen durfte, all die Zeit, in der sie mich liebte und verstand, wo es nichts zu verstehen gab. Sie war so einzigartig und brilliant. Die Art wie sie lief und wie sie sprach, wenn sie vor sich hinsummte und sich über jede noch so kleine Kleinigkeit freute. Ihre Augen lachten fast mehr als ihr Mund. Und plötzlich wurde mir klar, dass ich mich wie ein Idiot benommen hatte. „Ich liebe dich, Elise.“ Sie schüttelte den Kopf und versuchte zu widersprechen, aber ich drückte nur fester ihre Hand und schaute sie direkt an. Ich hörte Mauern einreißen. „Ich liebe dich, Elise. Ich habe dich schon immer geliebt und ich werde dich auch immer lieben. Es tut mir so leid. Es tut mir so furchtbar leid, dass ich ein Idiot war, immer mit dem Kopf durch die Wand. Das hattest du nicht verdient, nie, und an jenem Abend, du weißt nicht, wie sehr ich bei dir sein wollte, schon als du begonnen hast zu reden, ich wollte dich zu mir ziehen, im Arm haben, festhalten, dass du nie mehr fort kannst, ich wollte dich küssen und dich spüren, ich war dumm, so furchtbar dumm, dass es mich bis heute noch verfolgt, ich ertrug nicht, ein weiteres Mal verletzt zu werden und ich hatte so eine Angst. Vor dir, vor mir, vor uns, vor der Liebe, und ich konnte nichts tun als dazustehen und den größten Fehler meines Lebens zu begehen. Ich hätte dich niemals gehen lassen sollen.“ Ich konnte meinen Körper nicht kontrollieren, schluchzte, sodass mir selbst der Atem versagte, und ich hatte solche Angst, fühlte mich hilflos, seufzte und schluchzte und wusste, dass nichts davon etwas daran ändern konnte, dass sie hier lag. So still sah sie mich an, während Tränen hinab kullerten und sie dennoch lächeln musste. Sie lächelte und sah so zufrieden und glücklich aus, dass es meine Hoffnung weckte und ich wusste, dass wir das schaffen würden, jeden Moment würde der Notwagen eintreffen und sie würden ihr helfen, alles wäre gut und ich würde nichts mehr falsch machen, sie nur noch lieben und ihr es jede Sekunde zeigen. „Elise – ich weiß, es war nicht leicht mit mir, aber das wird sich jetzt ändern, verzeih mir bitte. Verzeih mir und wir fangen wieder neu an. Du wirst nicht sterben, du wirst wieder gesund werden und wir erleben so viel, holen all die Zeit nach, wir fahren zuerst ans Meer und sehen uns den Sonnenuntergang an und wenn es nur für diesen einen Tag ist, wir gehen wandern und schwimmen-“ „In Italien...“ Ihre verträumten Augen. „In Italien, ja, wohin du auch immer willst, ich komme mit dir. Und wir kommen jeden Tag an diesen Ort, an unseren Ort, und picknicken unter genau diesem Baum hier, weil wir irgendwann daüber lachen werden, wie dumm ich war, erst jetzt zu merken, was für ein Glück ich mit dir habe. Und wir werden viel lachen, weil alles andere egal ist, nur du und ich, mehr braucht es nicht.“ „Das … wäre so schön.“ „Das wäre es, und eines Abends, wenn wir wieder hier sind, bereite ich eine große Überraschung für dich vor, und du wirst denken, dass ich etwas angestellt habe und kommst hier her, sorgenvoll, nur um mir dann glücklich in die Arme zu springen, wenn ich dir den Ring an den Finger lege. Wir werden eine tolle Hochzeit feiern, mit all unseren Lieben und es wird romantischer als du es dir vorstellen kannst. Wir sind zwei Lichter, die umhertänzeln und nie erlischen werden. Wir bekommen zwei wundervolle Kinder, ein Junge und ein Mädchen und wir nennen sie – wir nennen sie Liam und -“ „Lilli. Liam... und Lilli.“ Ein kurzes Lachen stieß unter ihren Schluchzern hervor und ich nickte heftig, küsste immer wieder ihre kalte Hand. „Du wirst eine tolle Mutter und Ehefrau sein und ich werde keinen Augenblick mit dir missen wollen, denn wir gehen gemeinsam bis ans Ende der Welt, weil uns nichts, rein gar nichts mehr, trennen kann. Wir und die Kinder, in einem wunderschönen großen Haus, mit einem riesigen Garten, der im Sommer so wunderschön erblüht, nur für dich. Ouh, und natürlich Herbstbäume! Ich pflanze dir davon so viele...“ Ein gurgelnder Laut unterbrach mich, ganz leicht konnte ich ihren Körper zucken spüren. Doch sie sah mich immer noch glücklich an und lächelte. Sie lächelte, als wäre da nichts, dass schlimm sein könnte und auch ich lächelte durch meine Tränen hindurch, denn ich liebte sie und niemand könnte mir das Gefühl nehmen. Ich liebte sie und ich würde niemals damit aufhören. „Du darfst nicht sterben. Du musst durchhalten.“ Die Kälte ihrer Hand schlich an meinen Armen empor. Es wurde zu still, wir waren so weit weg von der Welt, weg von allem Leben. Ihr Atem stockte mehr und mehr, mein Herz blieb fast stehen, der Kloß in meinem Hals wie ein Berg, Tränen wie Flüsse. In der Ferne hörte ich endlich Sirenen. „Lass mich nicht alleine, du darfst jetzt nicht sterben, nein, denk an Liam und Lilli, denk an uns. Du darfst nicht sterben, nicht jetzt, okay? Du und Ich, wir sind doch füreinander bestimmt, Elise.“ Sie strahlte glücklich und sah mich zwar an, der Blick aber schien in weite Ferne zu schweifen, so als träume sie den schönsten Traum und er bestünde aus der großen Sonne, die sich rötlich über die Felder zog, während sie den Rand der Erde küsste. „Ja...“ Ihre Stimme war nur noch ein leichtes Hauchen, unterschied sich noch kaum von einer warmen Brise, als eine letzte Träne, voller Glück, zu Boden fiel. „Füreinander … bestimmt.“ Ich nickte heftig und strich ihr sanft über das Gesicht, in ihren Augen jedoch verblieb nur noch endlose Leere – der Körper ruhig und kalt – und ich wusste, dass sie fort war und niemals wiederkehren würde. Sie sah so ruhig aus, friedlich, als könnte ich sie wecken. Ich war wie gelähmt, ich hörte nichts mehr, ich sah nichts mehr. Ich lehne am Herbstbaum, in den Ruinen meiner eigenen Mauer, alleine, und sehe hinauf in den großen weiten Himmel. Die Bäume rascheln weiter vor sich hin, der Himmel ist immer noch gräulich bedeckt, der Wind bläst weiterhin durch die Baumkronen. Nichts hatte sich geändert, mit dem Unterschied, dass sie nicht mehr da war. Und während die Notärzte versuchen Elise zu retten, eine Sache der Unmöglichkeit, höre ich neben mir eine Person reden, sie berührt mich an der Schulter, doch ich – ich höre nichts, ich blicke nur auf und beginne den Wind zu hassen, die Blätter der Bäume und das vertrocknete Gras, den grauen Himmel, der einfach weiter vor sich hin existiert. Ich verstehe nicht, was ich fühle, es ist als schwebte ich, aber nicht wie die Leute es immer beschreiben, es fühlt sich mehr an, wie ein Boden, der mir unter den Füßen weggezogen wird. Ein Gefühl wie ein Schleier, der sich um mich zieht und die ganze Welt unter seinen Bann legt. Warum? Ich kann an nichts anderes mehr denken als an 'Warum?'. Warum habe ich sie getroffen, warum habe ich mich verspätet, warum habe ich sie gerufen, warum habe ich sie nicht schon viel früher geküsst und ihr gesagt wie sehr ich sie liebe. Ich fühle mich nicht wie in meinem Körper, losgelöst von allem. Wie selbstverständlich ich alles nahm. Alles von mir fortstieß, nur um Ruhe zu haben. All das Gute und wahrlich Schöne in meinem Leben habe ich verletzt und verleugnet. Ich hätte die beste Zeit in meinem Leben erlebt, mit ihr. Mit unseren Kindern. Mit ihrem ansteckenden Lachen. Und ich – ich habe sie sterben lassen. Und selbst im Sterben kam es mir vor, als hätte ich nicht genug gesagt, nicht genug gefühlt, nicht genug gezeigt. So alltäglich, so unspektakulär kommt es mir nun vor und doch ist es ein Tag, den ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde, der mich auf ewig verfolgen wird. Die Bäume rascheln, der Himmel ist unheilvoll wolkig als ich die menschenleere Straße verlasse und den Berg hinaufwate. Sie wartet schon auf mich, mit dem Rücken zu mir gekehrt. Lass sie dort stehen, sage ich mir. Dreh dich nicht um, Elise. Lass sie weiter träumen, leben, lieben. Ich höre weit entfernt Musik. Dreh dich um und geh. Rufe sie nicht. Sie sieht so friedlich aus. „Elise!“ Nein! Ich kann mir nicht verwehren in ihr schönes Gesicht zu sehen, das breite Grinsen, das ich so sehr an ihr liebe. Wie sie strahlt und vor sich hinsummt. Mit dem Kopf in den Wolken. Das Auto. Immer wieder sehe ich das rasende Auto, immer wieder höre ich die ohrenbetäubende Musik. Immer wieder sehe ich es vor mir. Hätte ich dich doch nicht gerufen... Hätte ich nicht... Doch so oft ich den Berg hinaufwate und Elise dort stehen sehe, unter den Blüten, die in meiner Erinnerung nun blutrot auf dich hinabfallen, so rufe ich dich ein jedes Mal und begehe immer wieder den gleichen Fehler. Die Dummheit des Menschen ist zu groß und wird immer auf uns selbst zurückfallen. Das Schlimmste aber daran ist, dass andere für etwas büßen müssen, das wir getan haben, unschuldige Menschen, deren einziger Fehler es ist, bedingungslos zu lieben. Meine Erkenntnis kam zu spät, ich hatte alles verloren, denn du warst für mich das, was die blühenden Bäume dem Herbst bedeuten, und nun muss ich das grausamste aller Leben verbüßen, denn es ist ein Leben ohne dich.
© Paola Baldin