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Das Medaillon


Ich betrete das abgelegene Haus, das Haus, das mir einst so viel bedeutete. Farblos, in einem dunklen Grau, hallt mein erster Schritt durch die kalten Gänge. Leises Flüstern zischt durch die Luft als fände es keinen Anfang. Langsam nähere ich mich dem Raum, der einst die Küche war, Schritt für Schritt.

Im Türrahmen bleibe ich stehen, hebe vorsichtig den Kopf. Das kindliche Flüstern zischt meinen Namen.

Mein Körper erstarrt.

Unversehrt steht der Tisch an seinem alten Platz, auch die Stühle. Draußen rieselt die Asche zu Boden, während er dort sitzt; drinnen blättert sie von den Wänden und weht seicht um meinen Körper, während ich die Lippen langsam öffne, aus voller Kehle nach ihm rufe.

Doch Stummheit schreit die Wände an.

Mit dem Rücken zu mir gedreht, mit dem Blick auf das große Fenster, rührt er sich nicht. Kaum merklich spielt weit entfernt eine Melodie, welche ich zu kennen scheine. Ein Bild schießt durch meinen Kopf, ein Medaillon, verziert mit Blumen, liegt in einer starken Hand, reflektiert die Sonne direkt in meine Augen.

Ich schließe sie und öffne sie. Grelles Licht. Augen zu und Augen auf.

Nur Gräue. Ich will dein Gesicht sehen, blicke zum Spiegel zu unserer Rechten. Doch auch dort sitzt du von mir weggedreht auf jenem Stuhl und blickst hinaus zum Fenster als sehest du die Ewigkeit. Mich selbst sehe ich nicht.

Mein Blick wandert wieder langsam zu dir, während ich ein Fuß vor den anderen setze. Das Flüstern wird immer lauter, auch die leise Melodie, mit jedem Schritt beginnt das Herz zu rasen. Stumm forme ich meine Lippen zu deinem Namen, doch selbst dies geht im Schrei des Flüsterns unter.

Wieder ein Bild. Zwei lachende Kinder. Du und ich. Noch wenige Schritte. Meine Ohren dröhnen. Ein anderes Bild. Ich sehe mich als junge Frau auf deinem Rücken reiten. Das Lachen hallt durch Zeit und Raum.

Ich bin so nah, bald kann ich nach ihm greifen!

Ich sehe den blauen Himmel, dein Lächeln als wir im Gras liegen und saftige grüne Blätter auf uns herabfallen, die warme Brise, die unsere Haut berührt. So nah. Dein Gesicht. Ein letztes Mal will ich es sehen. Ich strecke meine Hand nach dir aus, du, mit dem Rücken zu mir gekehrt.

Die Sonne strahlt, während du die Kette mit leuchtenden Augen ausziehst und das Medaillon in deiner Hand zu mir streckst, es reflektiert einen Sonnenstrahl direkt in meine Augen. Deinen Namen auf meinen Lippen, berühren meine Finger sanft deine Schulter, mit weiten Augen sehe ich, wie du vorsichtig dein Kopf in meine Richtung hebst. Plötzlich ein Bild, wie du auf dem harten Boden liegst. Regungslos. Kalt. Fast kann ich schon dein Gesicht sehen.

Stille. Dunkelheit.

Ich öffne meine Augen. Sterile, graue Wände erblicke ich zuerst, dann ein einsames Bett. Ein rhythmisches Piepsen scheint dort seine Herkunft zu haben. Langsam nähere ich mich dem Bett, während schweres Atmen zu hören ist. Mit einer Atemmaske und vielen Kabeln liegt er dort, regungslos. Mit jedem Herzschlag klammert er sich an sein Leben. Auf seiner sich hebenden und senkenden Brust glänzt das Medaillon.

Ich strecke die Hand nach ihm aus. Sanft berührt meine Handfläche den kalten Schmuck.

Die Tür wird aufgerissen, Personen stürmen in das Zimmer, ein Doktor mit Mann und Frau. Ich höre sie nicht, nur weit entferntes Murmeln. Ausdruckslose Gesichter, die mich nicht bemerken. Der Mann nickt dem Doktor zu, während er sich selbst dem Bett nähert, nach dem Medaillon greift und es öffnet. Die Melodie beginnt zu spielen. Für einen kurzen Augenblick bleibt er dort stehen, als wäre er erstarrt.

Er starrt.

Dann reißt er mit lautem Gebrüll die Kette hinfort, schmettert sie an die Wand und verlässt ausdruckslos wie zuvor mit der Frau an der Hand den Raum.

Beschädigt läuft die Melodie weiter, während der Zurückgebliebene alle Kabel entfernt. Ein langgezogenes Piepsen dröhnt in meinen Ohren, bevor es vollends verstummt.

Ich höre dich flüstern. Mein Name.

Doch keine Bewegung in deinem Gesicht. Dennoch beuge ich mich seicht über deinen Körper, behutsam lausche ich nach Worten. Stille. Graue, tiefe Stille.

Du packst mich. „Ich bin tot!“, schreist du spuckend mit aufgerissenen Augen. Ich schrecke zurück, stolpere, falle panisch zu Boden, hebe die Ohren zu.

Nichts hören! Nichts sehen! Nichts fühlen!

Das laute zischende Flüstern. Mein Name. Er lächelt, saftige grüne Blätter, eine starke Hand, eine warme Brise, Gras, sein Lachen, regloser Körper, kalt, die Melodie. Die Melodie. Nichts mehr außer der schiefen ruhigen Melodie ist zu hören.

Vorsichtig blicke ich durchs Zimmer. Nur die Melodie, sonst Stille. Während dem Aufstehen hebe ich das Medaillon auf, laufe zitternd zum Bett. Die Decke liegt nun auf dem ganzen Körper. Das Herz rast, behutsam ziehe ich die Decke hinunter, es rast noch schneller. Der Aufschrei bleibt mir im Hals stecken, ich ringe um Luft. Dort lagst nicht du. Dort lagst nie du. Dort lag nur ich, allein verwelkt, nur ich Selbst.

Die Stille schien mich zu ersticken, vollkommen wie es sie nur gab. Ich blickte auf meine geballte Hand hinunter und öffnete sie langsam. Asche rieselte zu Boden, kein Medaillon. Grelles Licht. Ich schützte meine Augen.

Dunkelheit.

Ich senke die Arme, sehe wieder die in Asche gehüllte Küche. Sein Kopf dreht sich langsam in meine Richtung. Fast kann ich es sehen. Sein Gesicht. Ein letztes Mal will ich es sehen. Meine Lippen hauchen seinen Namen, während er unter meinen Fingerspitzen zu Asche zerfällt. Zu Asche zerfallen.

Ausdruckslos setze ich mich still auf seinen Stuhl, der Tür den Rücken zugekehrt, aus der ich kam, und blicke aus dem großen Fenster, als sehe ich die Ewigkeit und die Asche rieselt immer noch zu Boden und fällt kläglich auf mein Haupt.

© Paola Baldin

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