Der Ehemann
Ich erinnerte mich an den letzten Tag vor einigen Wochen. Der Tag, an dem alles noch in Ordnung schien. Wir lagen zu zweit auf der blumenübersäten Wiese, ich schaute hinauf zum wundervoll blauen Himmel, während er mir sanft über den Bauch strich und unserem lang ersehnten Wunsch ihren Namen zuflüsterte: „Lyria.“ Ich muss die glücklichste Ehefrau und Mutter gewesen sein. Alles schien so perfekt. Heute stehe ich vor dem Grab und wie fast jeden Tag, wenn ich hierher komme, regnet es. Ich stehe immer alleine hier, ohne ihn. Seit diesem schrecklichen Tag habe ich ihn nicht mehr gesehen, er braucht wohl etwas Zeit, um den Tod zu verkraften. Ich schaue ein letztes Mal auf den Grabstein. „Lyria.“, lese ich und verlasse den schrecklichen Ort.
Mein Leben ist trist und ich spüre keinen Schmerz. Ich vermisse nur meinen Mann und sehne mich nach seinem Kommen, seiner Nähe. Meine sterile Wohnung beruhigt mich. Trotz meinem Nichts fühlen ärgere ich mich über die strahlende Sonne und die täglichen Besuche derer, die ich Familie nannte. Ich habe das Gefühl sie verschworen sich alle gegen mich. An einem Tag besuchte mich meine Schwester. Vorsichtig setzte sie sich zu mir, beäugte mich mit entschuldigendem Blick.
„Wo ist er?“, fragte sie leise. „Er lässt dich einfach alleine. So vollkommen alleine. Aber wir sind hier. Wir sind da. Vertraue uns, er ist schlecht, er kommt nicht wieder. Er war nicht einmal fähig dir ein Kind zu zeugen.“
Ich sprang wütend auf, packte und schüttelte sie. „Verschwinde! Er kommt wieder. Er ist ein guter Mann!“, schrie ich, während ich plötzlich wie unsichtbaren Widerstand spürte. Dann geschah das, wovor ich mich immer fürchte. Einer dieser Blackouts. Bilder, wie ich vor dem Spiegel stehe, Dunkelheit umhüllt mich. Ich blicke auf und sehe mein leichenblasses Gesicht, überall Falten und Augenringe als hätte ich wochenlang nicht geschlafen. Ich schrecke auf, schweißgebadet. „Es kann nur ein Traum gewesen sein.“, rede ich mir ein. Die Sonne scheint in mein Bad, während ich im Spiegel mein Gesicht mustere. Es fühlt sich glatt an, keine Augenringe. Doch mein Auge. Rot! Furchtbar rot! Ich gehe näher an den Spiegel, blinzele, rot. Ich versuche es mit Wasser, reibe mein Auge, immer stärker.
Es klingelt und ich schrecke zurück. Doch da ist nichts mehr in meinem Auge. Da war nie etwas gewesen. Wieder klingelt es und ich muss feststellen, dass es ein Besuch meiner Mutter war. Wieder dieser Blick.
„Wo ist er, Kind?“, fragt sie besorgt. „Bitte, vergesse ihn einfach. Du musst auch ohne ihn weiterleben. Er wird dich zerstören, wenn er es nicht schon getan hat!“
Kein Wort über das Kind, warum sorgen sich alle um die Liebe zu meinem Mann? Warum weine ich nicht am Grab meines Kindes?
Plötzlich kommt Vater durch die Tür, ein scharfer Blick durchbohrt mich.
„Lass sie.“, sagt er zu Mutter. „Sie begreift nicht, dass er für immer weg ist und sie wird es nie begreifen. Du siehst doch, dass sie es nicht einmal will.“
Er führt sie hinaus, während sie bitterlich weint. Wieso stören sie mich so in meiner Ruhe? Hier war ich geschützt vor all dem Schmerz. Ich lasse mich auf das Sofa fallen und schließe meine Augen. Vor mir sehe ich das Grab, es regnet und stürmt. Ich will den Namen meines Kindes lesen, doch die Buchstaben verschwimmen, ich kann nichts erkennen. Ein Blitz durchfährt mich und ich zucke zusammen. Nur meine sterile Wohnung ist zu sehen. Ich muss zum Friedhof, werfe mir den Mantel über und gehe in den Flur.
„Haben Sie einen Augenblick Zeit?“, fragt mein Nachbar, der im Türrahmen in seiner Wohnung steht. Er hatte mir nie etwas getan und dennoch war er ein Störfaktor. Andererseits sagt mir mein Instinkt, ich müsse ihn anhören. Ich schreite auf ihn zu, unsere Blicke treffen sich und ein unglaublicher Schmerz schießt durch meinen Kopf. Da ist wieder das Bild, mein zerfallenes Gesicht, da sind Männer, ich kann mich nicht bewegen, meine Arme sind verschränkt.
„Kommen Sie rein.“, sagte mein Nachbar und führt mich hinein. Ich setze mich ihm gegenüber, Schweißperlen rinnen mir von der Stirn. Immer wieder schweife ich ab, sehe Bilder von mir, dem Grab, von ihm.
„Was sehen Sie?“, fragt der Nachbar.
„Ich sehe eine riesige Wiese mit Blumen. Wir liegen darin. Er streicht mir über den Bauch. Mein Kind.“
„Wann bekamen Sie das Kind?“, fragte er weiter.
Ich sehe Polizisten in meiner Wohnung. Sie tragen einen traurigen Blick.
„Können Sie sich daran erinnern, wie Sie das Kind verloren?“
Mein Mann schraubt am Kinderbett. Es herrscht eine eisige Atmosphäre.
„Sie waren oft das Grab besuchen. Wie lautet die Inschrift?“
„Es ist alles verschwommen.“, flüstere ich, während er verständnisvoll nickt. Ich sehe mich in Tränen, schreiend, wüte. Ein Bild von mir und meinem Mann zerbreche ich an der Wand, stürze ins Kinderzimmer, schüttele am Kinderbett. Vater versucht mich festzuhalten, Mutter und meine Schwester sitzen zu Boden schauend auf dem Sofa.
„Wo ist Ihr Mann, Madison?“
Wir liegen auf einer blumenübersäten Wiese. Ich schaue in den klarblauen Himmel hinauf, während er seinen Arm über meinen Bauch legt. „Madison.“, flüstert er mir zu. Ich sehe an mir hinab. Sein Kopf liegt auf meinem flachen Bauch.
Entsetzt schrecke ich auf, der Stuhl fliegt zu Boden und schnellen Schrittes laufe ich hinaus, gefolgt von meinem Nachbarn oder wer auch immer er war. Die Kapelle rückt näher. Ich suche das Grab, verliere die Orientierung, doch dann sehe ich es. Ich sehe es klar und deutlich. Erstarrt bleibe ich stehen, unfähig etwas zu sagen.
„Madison, verstehen Sie jetzt, was vor sich geht? Ich bin Dr. Root, Ihr Psychologe, und versuche seit Wochen Ihnen zu helfen, Ihre Familie versucht zu helfen, doch alles haben Sie bisher abgeblockt.“ Ich kann es nicht glauben. Vermutlich träume ich nur. Meine Hand fährt an meinen Bauch.
„Sie verloren kein Kind, denn Sie waren nie schwanger gewesen. Es war ein lang ersehnter Wunsch von Ihnen und Ihrem Mann, doch nach dem, was geschah, mussten Sie diesen Wunsch mitsamt ihrem Mann begraben. Madison, Ihr Mann ist seit Wochen tot. Als Sie es erfahren haben, verkrafteten Sie es nicht und wurden in eine Psychiatrie eingewiesen und in meine Behandlung übergeben. Sie begannen zu halluzinieren, Ihre Tochter sei gestorben, schienen alles misszuverstehen, was man Ihnen über Ihren Mann sagte, waren aggressiv, sodass wir Maßnahmen zu Ihrem eigenen Schutz ergreifen mussten. Doch in den letzten Tagen zeigten sich Fortschritte.“
Ich zittere am ganzen Körper, ich spürte die Kälte der Wahrheit.
„Madison.“, er legte seine Hand auf meine Schulter. „Sie kennen die Wahrheit. Wenn Sie es jetzt geschafft haben, sind Sie schon bald wieder in Freiheit und können ein ganz normales Leben führen, aber dazu müssen Sie wirklich verstanden haben.“
Die Erinnerungen kehrten zurück. Wir richteten ein Kinderzimmer ein und versuchten schon lange endlich ein Kind zu bekommen. Während sich meinerseits Frustration ausbreitete, kämpfte er immer mehr für unseren Traum einer Familie. Er war für mich alles, was ich hatte. Ich erinnerte mich auch an den Tag auf der Wiese. Es war der letzte vor dem schrecklichen Unfall. Dann kam die Polizei und überbrachte mir die Nachricht. Das nächste, an das ich mich erinnere, sind weiße sterile Wände. Meine Arme sind durch eine Zwangsjacke verschränkt und unbeweglich. Immer, wenn ich in den Spiegel schaute, sah ich eine alte kranke Frau.
„Sie erschufen sich eine Lüge, in der Sie sich besser fühlten, in der Ihr Mann nach wie vor lebte, in der der Verlust eines nie existenziellen Kindes ertragbar war. Ihr Mann ist tot!“ Erwartungsvoll schaute er mich an.
Es herrschte bedrückende Stille bis ich sie durchbrach: „Ich weiß, dass er zurück kommt. Ich weiß Ihre Sorgen zu schätzen, lieber Nachbar, aber mischen Sie sich nicht in private Angelegenheiten ein, ich will weiter um meine verstorbene Lyria trauern.“
Enttäuscht schüttelte er den Kopf: „Lassen Sie uns wieder nach Hause gehen, Madison.“ Während wir langsam hinfort gehen, schaue ich ein letztes Mal zurück.
„Steve Dejavú. Geboren am 03.09.1983. Gestorben am 01.02.2013. Geliebter Sohn und Ehemann.“, lese ich in Gedanken die Inschrift des Grabes und wir gehen davon.
© Paola Baldin