Der Flügelschlag eines Schmetterlings und seine vorhersehbaren Folgen
Es war ein Tag wie jeder andere, mit dem Unterschied, dass nichts so war wie es sein sollte, schon aus dem Grunde, dass die Sonne nach langem endlich wieder schien. Unglaublich viele Menschen tumelten sich in der zu kleinen Einkaufshalle und versperrten mir mal wieder den Ausgang. Ein Samstag, wie ich ihn nur kannte. Der Grund für das Nichtvorankommen war ein älteres Pärchen, das schon mehr tot als lebendig schien. Wie Aasgeier drängelten sich die Leute um sie herum, als pickten sie schon Fleischstückchen aus ihnen, kamen aber einfach nicht vorbei. Die Gier und Ungeduld mancher war nicht zu fassen, wie sie verglichen mit einer Welle in den Laden preschten, ungeachtet anderer Leute mitrissen was sie konnten und nur sehr schwerfällig wieder hinausflossen, so wie man es nunmal von Überschwemmungen kannte. Und zurück bleibt das erwartete Chaos, inmitten dessen ich stehe und nur die wichtigsten Dinge zum Überleben brauche. Eine Sache von wenigen Minuten, doch ein jedes Mal erblicke ich das Tageslicht erst nach Stunden und Elise will mir wirklich vorwerfen, dass ich diese Samstage hasse. Versteh sie mal einer in ihrer schwierigen Phase, in der sie 'sich nicht wirklich geliebt fühlt' und sie 'so alleine im Alltag erstickt', weil ich 'nie' für sie da sei. Wie kann ich nie für sie da sein, wenn ich heute hier stehe, den Einkauf diesmal sogar alleine mache, für sie und Lilli, weil Elise' Eltern schon früher zu Besuch kommen? Wie kann ich nie für sie da sein, wenn ich die gesamte Woche von früh morgens bis spät abends das Geld für uns erarbeite, damit wir einigermaßen über die Runden kommen? Wie soll ich da noch gut gelaunt sein, wenn ich einfach etwas Ruhe will und sie nie bekomme? Selbst heute bin ich alleine und merke nichts von dieser sogenannten Ruhe. Vielleicht wäre es-
Plötzlich rempelt jemand meinen Einkaufswagen an und läuft schnellen Schrittes weiter, blickt noch ein Mal wütend zurück. Welch eigene Ironie, dass nun ich den Ausgang blockiere, denn das ältere Pärchen war nicht mehr zu sehen. Zu oft versinke ich in Gedanken; das würde eines Tages noch Folgen haben.
Endlich bin ich wieder an der frischen Luft, atme tief ein, während die Sonne wärmend herabscheint. Das ist Erleichterung, denke ich und im selben Moment kehrt das bedrückende Gefühl zurück als mein Handy klingelt. Es ist Elise. Ich zögere nicht lange und stecke es wieder ein. Egal was es war, es konnte warten. Das Schlimmste wäre, wenn ich nochmals in dieses verfluchte Gebäude gehen müsste. Vermutlich wollte sie nur drängen, wo ich so lange bleibe, als wüsste sie nicht, was samstags hier los war, aber der genervte Unterton in ihrer Stimme, bevor ich ging, war genug, als sie sagte, ich solle mich beeilen. Ich bin sowieso schon unterwegs heim, auf die paar Minuten kommt es nicht an und das Handy verstummt.
Nachdem alles ins Auto gepackt war und ich den Einkaufswagen zwecks Slalomlaufs endlich zurückstellen konnte, steige ich ins Auto und genieße wenigstens hier die kurze Stille. Ein finsterer Mann mit gerunzelter Stirn und genervtem Blick schaut mich im Rückspiegel an, daneben hängt das Bild von einer glücklichen Elise, umarmt von einem glücklichen Mann mit Lilli im Arm. Zeiten vergehen, das gilt auch für die schöneren. So viele Jahre ist es her und ich bin fast nur noch ein Arbeitstier. Wo sind all unsere Träume hin? Wo ist die Gelassenheit? Kein schönes heißes Bad, das mich daheim erwartete, eher eine Lilli, die ich ständig zurechtweisen muss, meine Frau, die mich mit enttäuschtem Blick begrüßt, weil ich mich lieber ausruhen will als den Abend mit ihr zu verbringen, aber gemeinsame Zeiten gibt es doch genug. Keine freie Minute ist mir gegönnt, daheim bin ich wohl mehr auf der Arbeit als andersherum und wie dankt man es mir? Gar nicht. Und ich starte den Motor, warte eine halbe Ewigkeit bis endlich kein Auto mehr meine Ausfahrt blockiert und fahre los, die Sonne blendet, dennoch sehe ich, dass die Kreuzung frei ist und ich gebe Gas, bevor es zu spät ist. Ich greife im Handschuhfach nach meiner Sonnenbrille und wieder ertönt der nervenzerreißende Ton meines Handys, das ich heraushole und tausende Male auf dessen roten Knopf drücke. Gottverdammt, konnte ich nicht eine Minute für mich haben?
Ich schaue wieder auf und die Zeit bleibt fast stehen als ich es zu spät erblicke.
Das andere Auto kommt zu schnell, ich werde nicht rechtzeitig bremsen können. Ich hätte es kommen sehen müssen, es konnte mich aber nicht kommen sehen. Und plötzlich habe ich nur noch fünf Bruchteile einer Sekunde, die mir bleiben. Für mich alleine. Ganz alleine.
Fünf. Eine junge Frau sitzt am Steuer des anderen Wagens. Sie blickt über ihre Schulter, ein breites Lächeln auf den Lippen. Ich sehe auf der Rückbank einen lachenden kleinen Jungen. Ich denke an Lilli, die strahlt wie eine Sonne. Vier. Die Sonne, zu der ich hinaufblicke. Ein Schwarm Schwalben schwebt so friedlich und doch unheilvoll unter dem fast freien tiefblauen Himmel, geschmückt durch nur eine kleine Wolke, kaum sichtbar zieht sie der Sonne entgegen. Drei. Mein Blick fällt auf das Foto von uns, das im Sonnenschutz klemmt. Wie glücklich wir darauf strahlen. Wie viel Glück muss man wohl haben, um das zu bekommen, was ich schon habe. Und wie lange dauert es für einen Narren wie mich zu sehen, wie viel Glück er hat? Die Autos kommen immer näher. Was habe ich nur getan?
Zwei. Hinter der Scheibe schlägt ein Schmetterling seicht mit seinen wundervollen bunten Flügeln wie Lilli damals bei ihrer ersten Aufführung in ihrem Schmetterlingskostüm, Elise entzückt von so viel Niedlichkeit, den Tränen so nah wie ich es nun bin. Fast vergesse ich mein schreckliches Los, sähe ich nicht das sich zu mir drehende Gesicht der Frau, deren Lächeln auf einmal so schnell verschwindet wie sich ihre Augen weiten. Sie blickt in die Augen eines für tot erklärten Mannes. Zu nah.
Eins. Erneut der Ton eines Anrufs, ein Stich in mein Herz. Warum habe ich vorhin nicht schon abgehoben und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe? Wie gerne würde ich ihre Stimme hören, ihr sagen wie furchtbar leid es mir tut, und dass jetzt alles wieder gut wird. Ich erinnere mich wie wir uns das erste Mal trafen, du strahltest so hell, dass ich meine Augen nicht von dir abwenden konnte und dein Lachen bräche tausend Flüche und erweiche das dunkelste Herz und so viel wie du mir über Jahre hinweg gegeben hast, mit aller Geduld, werde ich nie mehr zurückgeben können. Du schenktest mir dein Herz und nun trage ich es bei mir. Ich denke an die Narzissen, die ich dir zum ersten Mal brachte und an die freudigen Tränen vor dem Altar. Wie ein Engel hast du geweint. Du hast mich unterstützt bei Lillis Geburt, mehr als ich dich, so nervös wie ich war. Und ich sehe die kleine schreiende Lilli in meinen Armen und ich werde zu einem Ganzen und jeden Schritt, den sie tat, habe ich miterlebt, stolz und voller Glück, die unbändige Liebe in Elise' Augen. Es gab keine Minute, in der ich nicht da war und nicht an sie gedacht habe. Ich habe sie unglaublich vermisst, zu jeder Zeit. Und nun sehe ich vor mir wie enttäuscht sie mich ansieht und sagt, ich solle mich beeilen. Dass ich vorsichtig fahren soll, habe ich überhört. Von Lilli verabschiedete ich mich gar nicht, sie hätte mich nicht gehen lassen. Ich ging einfach und ging ohne ein Wort. Ich nehme den Anruf an, drücke ohne zu zögern auf den grünen Knopf. Die Augen der Frau... und ich schließe meine.
„Papi!“, höre ich plötzlich Lilli rufen und in meiner Verwirrung rennt sie aus der sonnigen Küche direkt in meine Arme, die Einkaufstüten fallen zu Boden und aufgeregt erzählt sie von ihrem Leben als Schmetterling und wie sie mit nur einem Flügelschlag einen bösen Drachen besiegte. Ihre kleinen niedlichen Hände, die wild in der Luft gestikulieren. Heller als die Sonne strahlen die Augen von Elise, als sie im Türrahmen stehen bleibt - ihr Haar schimmert wie Gold in der grellen Sonne - und glücklich lächelt. So wie an jenem Tage als ich zum ersten Mal ihre Lippen küsste, und ich weiß, ich bin zuhause und nirgends anders wollte ich mehr sein. Für immer beieinander. Nie wieder würde ich solch einen Fehler begehen.
Ein lauter Knall lässt meinen Körper erzittern, gefolgt von einem heftigen Ruck. Es wird zu dunkel als die kleine Wolke am Himmel vor die Sonne zieht und der Welt die letzten Farben nimmt. Doch alles wird so klar wie nie zuvor und ich zwinge mich wenigstens ein Auge zu öffnen. Das Handy liegt vor mir - so greifbar und unerreichbar zugleich - die Verbindung mit Elise steht aufrecht, sie ist am Handy. Sie ist da. Ich höre ihre aufgeregte Stimme meinen Namen rufen, doch mein Körper ist taub. Elise, denke ich. Elise. Doch kein Ton entflieht meinen Lippen.
„Mami“, ertönt Lillis Stimme. „Was ist denn mit Papa?“
Lilli. Elise...
Ein finsterer Schleier legt sich sanft, aber unaufhaltsam über mich. Wir Menschen, die uns so klug stellen, sind nichts weiter als dumme Geschöpfe dieser wundervollen Welt; wir glauben zu wissen, immerzu das Richtige zu tun und glauben fest daran, das Höchste erreichen zu können, dabei übersehen wir jedoch das Wesentliche: Liebe, Menschen, die wir lieben, ohne die wir nie auch nur einen Fortschritt gemacht hätten, die uns Kraft und Mut gaben, uns nie verließen, so schwer es auch war, die uns lieben. Wir streben nach vollkommenem Glück und verleugnen das selbige, weil wir glauben es wäre noch größer, noch weiter als das was wir schon haben, dabei liegt es unweigerlich direkt vor unseren Augen, so deutlich und wundervoll, so greifbar, doch wir reichen nie danach. Letztendlich haben wir wohl verlernt, was es heißt zu lieben und geliebt zu werden. Und wenn endlich die Erkenntnis kommt, ist es oft schon zu spät. Wir Menschen sind zu hektisch, verlangen mehr als uns zugesteht und weinen über unser eigen Scheitern bis wir vollends untergehen.
Da gibt es noch so vieles, das ich dir gerne sagen würde, Elise, vor allen Dingen, dass ich euch mehr als alles andere liebe, aber die Zeit rennt davon und ich kann kaum reden. Ich hoffe du weißt, dass ich lieber in offener zugeständiger Liebe sterbe als sie dir ein Leben lang vorzuenthalten und dich immer so enttäuscht zu sehen. Ich war ein Narr.
„Verzeih.“, haucht meine Stimme in voller Mühe und ich höre dich noch panischer meinen Namen rufen bis es jedoch im Rauch verklingt. So viele Dinge durfte ich erleben; so viele Dinge hatte ich noch vor, mit euch gemeinsam, doch mein Körper erschlafft und ich spüre nichts mehr. Nicht einmal den Schmerz.
Nun, da es so ruhig wird, muss ich an jenes Video denken, welches ich an Lillis fünftem Geburtstag gemacht hatte. Wie oft hatte ich es mir heimlich in der Nacht angesehen, in jener Zeit voller Arbeit und Mühe. Auch wenn ich es selten zeigen konnte... ich habe sie immer vermisst.
>„Und jetzt blas die Kerzen aus und wünsch dir was. Vorsichtig, vorsichtig, du willst doch nicht in den tollen Kuchen deiner Mum fallen!“, sage ich und sie lacht und lacht und bläst die Kerzen pustend und prustend aus, Elise steht schützend hinter ihr und strotzt nur so vor Glück. Dann winken sie beide grinsend und mich rufend in die Kamera. <
Die Erinnerung verblasst...
Ein letztes Mal höre ich ihre hellen fröhlichen Stimmen klingen, ein letztes Mal sehe ich ihre lieblich lächelnden Gesichter, ein letztes Mal spüre ich die weichen Hände auf meiner rauen Haut, und dann ist es vorbei.
Es ist einfach vorbei.
© Paola Baldin