Die Ruhe nach dem Sturm
Stille strömt wie eine Welle durch die Halle. Ich stehe hier oben, alleine, und bin doch wie an einem anderen Ort. Ich weiß nicht, was die anderen sehen, aber Gräue liegt wie ein bedrückendes Tuch über der Welt.
Der Klang eines klagevollen Liedes kitzelt in meinen Ohren, vibriert unaufhörlich, ohne, dass auch nur ein Ton durchdringt. Ich stehe hier oben und mein Blick schweift hinfort, weit hinfort, wo ihm niemand folgen kann. Und in die ewige Gräue hinein, spreche ich, zu mir, zu allen, und doch zu keinem.
„Ich kenne einen beeindruckenden Mann. Ein Mann im Alter von ungefähr 23 Jahren. Ein Mann, der eine tolle Kindheit hatte, mit vielen Freunden und der immer wie die Sonne strahlte, so dunkel auch der Himmel schien. Er ist die Art von Mensch, der treu ist wie kein anderer, der immer an Ort und Stelle ist, wenn man ihn braucht und der so lange nicht von der Seite weicht bis es einem wieder besser geht. Er ist sehr ehrgeizig und wird deshalb von vielen beneidet, aber für dasselbe auch geliebt, denn er ist bescheiden, teilt all sein Glück und freut sich an dem des anderen. Seine Freunde bewundern ihn dafür und auch Frauen werden von ihm angezogen, durch seine fröhliche Art, den Tag zu begrüßen, durch seinen Mut und dem Willen niemals aufzugeben, sondern immer weiter zu kämpfen, vor allem für das, was er liebt.
Ich sehe ihn vor mir.“, mein Blick fällt hinab wie durch tausend schwarze Löcher, die kein Boden spüren, hinab, weit hinab in die eigene Leere, die nie zu füllen sein wird. „Ich sehe ihn vor mir als stattlichen Mann, zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern, die fröhlich im Garten spielen. Weit entfernt höre ich das Flüstern seiner Frau. 'Liam.', flüstert sie ihm ins Ohr und nichts weiter kann ich heraushören, so innig umarmt stehen sie gemeinsam da, während sie ihn lange ansieht und ihr wie so oft bewusst wird, welches Glück sie doch hat, ihn an ihrer Seite zu wissen. Und auf seine eigene Art und Weise streicht er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und küsst sie so sanft auf die Stirn wie es an seiner Stelle kein anderer vermochte.
Ich sehe ihn vor mir, auch als strengen und doch liebevollen Vater, der weiß, wann es angebracht ist zu schimpfen oder Küsse zu verteilen, der versucht modern zu wirken ohne seine Kinder vor deren Freunden zu blamieren. Ein Vater mit nichts als Liebe im Herzen.
Ich erinnere mich, dass dieser Mann als achtjähriger mit seinem eigenen Vater zum ersten Mal einen Samen direkt vor dem Haus pflanzte und erst ungeduldig, dann doch ruhend darauf wartete, dass er endlich spross und als es dann endlich so weit war und der noch kleine Baum die ersten blauen Blüten zeigte, erinnere ich mich, wie begeistert er jenen Baum musterte als wäre ein Wunder geschehen; und mit leuchtenden Augen sagte er etwas wie: 'Genau das will ich machen. Sowas will ich bewirken.' Und das hat er tatsächlich in vielen von uns, wovon er selbst vermutlich gar nichts weiß.“
Ein leichtes Schmunzeln huschte mir über die Lippen. Das endlose Strahlen in seinen Augen... Langsam verstummt wieder das Hallen meiner Stimme und fast schon tritt Stille ein, würde ich nicht weit entfernt das Klagelied hören, das einfach keinen Weg in meine Ohren findet, sondern durch mich hindurch gleitet, ohne jegliche hinterlassene Spur.
„Für uns ist er die Hoffnung für eine bessere Menschheit, eine Zukunft voller Liebe und Mut. Er lehrt selbst manch erwachsenen Mann Durchhaltevermögen und geht als Vorbild voran. Er zaubert uns immer wieder ein Lächeln ins Gesicht, füllt den leeren Platz in unserem Herzen mit Liebe. Und wenn wir ihm in die Augen sehen, wissen wir, was für ein besonderer Mensch er ist.
Er ist der Mann, den ein zehnjähriger Junge namens Liam niemals kennenlernen wird.
Ein beeindruckender Mann, den ich niemals kennenlernen werde.“
Niemals. Tausend Gewichte zogen mich hinab zum Boden, doch unbeweglich stehe ich da, der Kloß im Hals, der wie ein eitriges Geschwür rasant zu einem Stein heranwuchs, einen bitteren Nachgeschmack erzeugte, und nur eine einzelne sehnsüchtige Träne in die Freiheit entließ. Einsam bahnt sie sich ihren Weg.
„Ich wünschte, ich hätte ihn kennengelernt.“
Mit einem ewigen Regen brachte der düstere Abend das Gefühl des endgültigen Endes mit sich und am Ende dieser Welt stehe ich vor des Mannes Grab, den ich immerzu vor mir sehe, ihn in seinem Ganzen liebe, obwohl er nie auch nur die Chance auf ein erfülltes Leben hatte und weit noch nicht der war, zu dem er strebte. Ein mutiger Mann, der zehn Jahre alt war und niemals aufhörte zu glauben.
'Unser geliebter Sohn Liam', lese ich auf dem Grabstein. 'Verstorben, aber nie vergessen.'
Ein letztes Mal schaue ich den kleinen Baum auf seinem Grab an, den Baum, den wir gemeinsam pflanzten, der Liam zum Strahlen brachte, und der seit zwei Jahren unentwegt jeher bläulich blüht, und ich gehe hinfort, weit hinaus in die ewige Gräue, die du uns hinterließest.
© Paola Baldin