Eine Odyssee der Schuld
Der Schrei des Drachen überzog das gesamte Schlachtfeld als mein Schwert sein vorderes Bein durchbohrte und er hinfort flog, nur um sich neuer Kraft für den nächsten Angriff zu berauben. Ich hörte den Klang aufeinander donnernder Schwerter, Schmerzensschreie, ein Kampfgetöse und immer wieder blies der Wind kalte Brisen modriger Luft herbei; ein unvergesslicher Gestank, bei dem sich der Magen zusammen zog. In jedem Moment starb einer von den unsrigen, in klagevollen Schreien gingen sie unter, während der Feind mehr und mehr Mut schöpfte. Ich spürte den Boden unter meinen Füßen erzittern als das Gebrüll des Drachen wiederkehrte, das Monster mit solch langen Schwingen, dass sie die ganze Welt umarmen könnten, den düster grauen, fast schwarzen Himmel im Rücken.
Ich wusste, dies war der alles entscheidende Moment, der Augenblick, den ich nutzen musste und ich stehe fest auf dem Boden, bereit für den kommenden Kampf, der Drache kommt näher, ein Sturm zieht mit jedem seiner Flügelschläge auf, sein Atem modrig und verbrannt, und ein letztes Mal schwinge ich mein Schwert mit einem Schrei voller Mut, voll Hoffnung und Liebe. Er reißt sein großes Maul auf, meine Klinge zischt durch die Luft und für einen kurzen Augenblick schwelgt die Welt in Dunkelheit.
Totenstille breitet sich aus, kein Laut zu vernehmen und selbst der Wind ist starr wie die Ruhe nach einem heftigen Sturm.
Doch hier gibt es kein danach. Ein bedrückendes Gefühl schleicht sich an meinen Beinen empor, spannt jeden Muskel meines Körpers, als könne mein Inneres zerreißen, zitternd drehe ich mich mit geschlossenen Augen um und öffne sie erst dann ganz langsam.
Die Welt steht still, selbst der Drache im Himmel bewegt sich kaum gen Himmel. Erst dann erblicke ich es, wie ein kleines Feuer auf offener See. Mein Herz verstummt, die Augen weit, mein Atem stockt. Meine Klinge verfehlte den Drachen - den Drachen, der dich aber nicht verfehlte - und alles was ich sehe, ist ein Meer aus Blut. Kaum trägt mich mein Gebein, schwankend und stolpernd, schneller als mein Verstand, und ich falle kraftlos vor dir auf die Knie. Deine Augen, sie blicken so fern, obgleich sie doch auf meinen ruhen. Zart streichen meine Finger über deine Stirn, dein schwerer Kopf in meinem Schoß. Eine Last, die ich allein zu tragen habe.
»Hör zu.« Deine Stimme bohrt sich durch meine Haut, durch mein rasendes Herz hinein und keine Träne ist Verschwendung für das Leid, das ich nun auf mir trage. Keine Angst war so greifbar und mein Körper bebt. »Es ist vorbei. Meine Zeit ist gekommen, so wie sie hinter jedermanns Türe darauf wartet, endlich befreit zu werden. Du wusstest, was passiert. Ich habe bis zum bitteren Ende gekämpft, doch nun bin ich erschöpft und des Lebens müde. Mein Körper zerfällt zu Staube und fliegt hinfort in die großen Weiten, wo das weiße glänzende Meer mit seinen endlosen Stränden auf mich wartet, dort wo sie alle schon auf mich warten.
Fürchte dich nicht, denn alles kommt dir nur zugute und eines Tages kommst auch du an jenen Ort, an dem ich voller Freude, voller Liebe auf dich warten werde.«
Ein blutiges Lächeln legt sich auf deine Lippen, deine kalte Hand umschließt fest die meine und wärmt mich doch, wie nichts anderes es vermag. Solch strahlend vertraute Augen verwandeln sich plötzlich in einen ernsten Blick, noch mehr fühle ich mich gehalten, umschlossen von größter Vertrautheit.
Deine Stimme haucht meinen Namen, gespannt sehe ich deine zitternden Lippen, bin gefasst auf alles, was kommt, auf die letzte entscheidende Minute, erwarte die Stimme, die sich mit jedem Wort durch mich hindurch bohrt, spüre die leichte Brise mit ihrer stinkenden Luft, halte meinen Atem, um keines deiner Worte zu verpassen. Der kommende Satz wird mich mein Leben lang begleiten, mir Kraft spenden, ein Licht sein in düsteren Stunden. Doch auf einmal wird dein Kopf ganz schwer, schlaff liegst du da, der Mund unbeweglich, mit Augen, die mich direkt anstarren und dennoch hinfort schweifen in für mich unerreichbare, unergründliche Weiten, die nie auch nur in greifbare Nähe kommen könnten. Trotzdem sitze ich hier und warte. Ich warte, als würden sich jeden Moment deine Lippen öffnen und mein Herz würde einen Sprung machen, wenn mich deine Stimme durchbohrt. Du wirst mir sagen, was zu tun ist, du wirst da sein und mich leiten, mir einen vollkommenen Abschluss bieten. Doch Minuten vergehen, Stunden gar und das schwere Tuch des Schweigens liegt immer noch unheilvoll über uns und der Welt.
Von diesem Tage an stand der Planet, wie ich ihn kannte, für immer still. Meine kläglichen Versuche, weiter zu existieren, doch wie weilt man fortan in einem solch fremden Leben? In einer Existenz, ohne deine stützende Schulter, ohne dein aufmunterndes Lachen, ohne deine führenden Worte und dennoch geht die Zeit ihren Gang, ohne dich. Die Sinne verschwimmen, die einst so wärmende Sonne bringt nicht einmal den Hauch von Glückseligkeit, all die Gerüche erinnern mich sehnlichst an dein Fehlen und selbst die Sterne am Himmel, die verlogenen Sterne, heucheln nur den Wink einer möglichen Ewigkeit und ich sehe immerzu die starren Augen, die mich einst verließen, höre die Stimme, die sich ein letztes Mal aufbäumte, um die letzte Pflicht zu erfüllen. Du nanntest meinen Namen und schwiegst auf immer. Viele Nächte hatte ich damit verbracht zu überlegen, was du mir hättest sagen wollen. Ich dachte nach und quälte mich, hörte dich in jedem meiner Träume meinen Namen rufen, bis ich ihn zu verfluchen begann.
Doch eines Tages kam mir die nahe Lösung einfach in den Sinn und ich lachte und lachte und lachte drei Tage und zwei Nächte lang, ich lachte über den vernebelten Verstand eines jeden Menschen und ein jeder Mensch lachte über den meinen. Du hattest mir die Frage auferlegt, was mir in meinem Leben bestimmt sein soll und immer auf ein Neues hinterfragte ich mich selbst und somit tat ich alles mit Bedacht, möglichst ohne jemandem zu schaden, ich sah die Dinge anders, lernte sie mehr denn je zu schätzen, selbst schlichte Dinge wie das Atmen, und ich erkannte, dass jeder Mensch seine eigene Bürde der Frage mit sich trägt.
Du kanntest mich, wusstest wie ich denke, fühle, handle und so hast du eine Idee in meine Gedanken gepflanzt, die sich eilig, einem Geschwür gleich, ausgebreitet hat. Es entstand die große Frage, dessen Antwort sich in sich selbst verbarg. Ich sollte leben, lieben, schätzen, genießen und würdigen, aber vor allem sollte ich mir über mein eigenes Ich bewusst werden. Und tatsächlich warst du auf eine gewisse Art und Weise immer noch bei mir, führtest mich und ließest mich nicht verloren, alleine durch ein einziges Schweigen von dir. Die Frage war des Rätsels Lösung und kein anderes Geheimnis konnte so offenbar sein wie dieses hier.
Wie schön doch diese Vorstellung wäre, nun war aber jenes Geheimnis vermutlich so kundig wie ein Vogel ohne seinen Himmel, denn letztendlich kämpfte ich einst nur gegen eine unheilbare Krankheit, die Besitz von dir ergriff, eine Krankheit in Form eines furchteinflößenden Drachen. Ich kämpfte mit dem treulosen Schwert, das nichts anderes als meine Hoffnung war, in einem Krieg, dessen Sieg nie auch nur in greifbarer Nähe schien; ein Kampf, der vom ersten Moment an vergeblich war.
An einem kühlen Novembermorgen, als die Sonne auf unserem Schlachtfeld den Rand der Erde küsste, starbst du in einem sterilen Krankenhausbett an meiner Seite, die noch wärmende Hand auf der meinen und nichts war zu vernehmen als die ewige Stille, meinen Namen auf deinen Lippen, der Frage, die gleichermaßen Antwort war.
Einfach und trostlos entglittst du mir in der Morgendämmerung eines des Novembertages, aber immer noch höre ich die Schwerter aufeinander donnern, die Schlachtrufe und Schmerzensschreie, der Wind peitscht ständig die modrige Luft in mein blutüberströmtes Gesicht und auf ewig kämpfe ich unaufhörlich mit erhobenem Schwerte gegen den Drachen, obgleich es ihn und dich schon lange nicht mehr gibt.
Niemals existierte für mich die Frage, niemals die Antwort.
Eine unaufhörliche Odyssee in nichts als in Schuld getränkt. Mit deinen unausgesprochenen Worten gingst du, so kämpfe ich ewiglich gegen den Tod.
© Paola Baldin