Riesenrad
Gott weiß wie ich hier gelandet war, aber mir kam es nicht so vor als sei ich zum ersten Mal hier. Es fühlte sich wie ein neuer Tag an und so tastete ich meine Hosen- und Manteltaschen ab, um wie gewohnt zur Arbeit zu fahren. Stattdessen zog ich aber ein zusammengefaltetes Foto hervor und klappte es behutsam auf. Lora war darauf abgebildet, fröhlich und mit ihrem gewissen Strahlen in den Augen. Schon lange waren wir eng befreundet und viele schöne Erinnerungen spielten sich in meinem Kopf ab, doch wo war sie nur, wann hatte ich sie zuletzt gesehen? Wie kam ich überhaupt an diesen Ort, der so absurd schien, dass es unmöglich die Realität sein konnte? Und wenn es sich so präsent anfühlte ohne die Wahrheit zu sein, machte es das nicht trotzdessen zu einer Realität; auch war nicht das, was früher war, dann nur der Schein? Es war, als seien die letzten Monate meines Lebens gelöscht worden. Es gab nur noch mich, ein Mann, der weder Schein, noch ein Sein war, und diese Welt.
Zum ersten Mal blickte ich auf und betrachtete die Szenerie. Andere würden es als normalen Jahrmarkt bezeichnen, wäre da nicht diese düstere Atmosphäre, die sich durch die Straßen zog, welche größtenteils aus Wasser und Stege bestanden. Finstere Wolken zogen sich am Himmel zusammen als stünde ein Sturm bevor, der sich niemals seinen Weg bahnen würde. Ein scheinbar leichter Wind blies durch die wenigen Bäume und ich erwartete das Rascheln der Blätter wie die Erweckung eines Toten, denn es blieb grausam still. Wie lange der Jahrmarkt wohl schon unbesucht sein musste, weit und breit sah ich nur schwarzes Wasser, das sich über den Horizont erstreckte, schwer zu glauben, es gäbe einen Weg hinaus.
Plötzlich ertönt ein Lachen und ich erhasche noch einen Blick auf einen kleinen Jungen, der hinter einem Stand verschwindet. Vorsichtig nähere ich mich ihm, in der Hoffnung ihn nicht zu erschrecken.
„Warum bist du hier?“, ertönt die Kinderstimme hinter mir und ich drehe mich zu ihm um.
„Die Frage ist wohl eher was ein kleiner Junge wie du an solch düsterem Ort tut.“
„Na, ich wohne hier natürlich.“, sagt er lachend und hüpft umher. „Das ist mein Zuhause und ich liebe es.“
Verdutzt schaue ich dem Jungen zu wie er mit ausgestreckten Armen ein Flugzeug imitiert und leichtfertig über die Stege rennt. Überall nur Stege und Wasser.
„Aber sag mir, mein Junge, wolltest du denn nie hier raus, ich meine weg von diesem Ort, ein Jahrmarkt ist doch kein richtiges Zuhause.“
Er bleibt abrupt stehen und schaut mich mit gerunzelter Stirn an: „Was meinst du mit ‚raus‘? Es gibt kein draußen. Entweder ist man an diesem Ort oder man ist es nicht.“
Und so hüpft er summend weiter, während ich mich weiter umsehe.
Kleine Brücken schmücken die Stege und ab und an schwimmt eine leere Gondel unter ihnen hindurch. Was ist das nur für ein Ort und warum kann ich mich an nichts erinnern? Erschöpft lasse ich mich auf eine der Brücken nieder und beobachte das sich beständig drehende Riesenrad, das im Hintergrund des Jahrmarkts undheilvoll in den Himmel emporragt. Bedrohlich knarzt das Gestell, während ich immer besser eine Gestalt in einer der vielen Gondeln erkenne. Ich schaue noch genauer hin und mein Herz macht einen Sprung.
„Das ist sie.“, flüstere ich. „Ich weiß es einfach, sie ist es, Lora.“
Schnell war ich auf den Beinen ohne die Gondel aus den Augen zu verlieren.
„Bleib von dem Riesenrad fern.“ Der Junge schien mich seit einer Weile beobachtet zu haben, denn auf einmal stand er mit benebeltem Blick an meiner Seite, ganz starr. „Das ist kein Platz für Menschen wie dich und mich, da kommen – “, er zögert, „andere Menschen hin, welche, die es selbst verschuldet haben, die die Augen vor der Wahrheit verschließen.“
Heftig schüttele ich den Kopf. „Aber Lora ist da drin!“, rufe ich und hebe ihr Foto panisch vor seine Augen. Er hat seinen Blick keine Sekunde von mir gewandt, nur um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen: „Ihr Fehler war einen Fehler zu sehen, wo keiner war.“
Eine Erinnerung schießt mir durch den Kopf. Lora, mit dem Rücken zu mir gedreht, läuft hinfort. Ihre Eltern mit ihr, sie war solch hübsche junge Frau, wenige Stunden zuvor, bevor sie sich für ihre Eltern entschieden hatte, strahlte sie mich noch an. Sie hatte sich gegen mich entschieden.
„Nein.“, sagt der Junge in hartem Ton, während ich mein Gesicht in meinen Händen verbarg. „Du vergisst wichtige Umstände. Erinner dich weiter. Denk an den Tag, an dem sie zurückkehrte.“
Und so geschah es auch. Vor mir tut sich ein Bild auf, ich stand vor der Tür, um sie dem Klopfenden zu öffnen. Es kommt mir vor als sähe ich einen Film. Vor der Tür stand wie zu erwarten Lora, Tränen in den Augen – ihr Anblick wärmt mir trotzallem noch mein Herz.
„Nein!“, rief der Junge erneut. „Freudentränen in den Augen, sie fiel dir um den Hals. Du standest nur reglos da, starrtest in die Leere. ‚Was ist los mit dir?‘, fragte sie mit Furcht. Ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken erwidertest du: ‚Du hast dich gegen mich entschieden, nun geh.‘ Und so hast du die Tür geschlossen und hörtest ihr Klagen und Flehen und Klopfen, doch ewig verschlossen blieb deine Tür.“
Das konnte doch unmöglich sein, sie war es doch, die von mir ging!
Doch unablässig fuhr der Junge fort, obgleich ich mich schon auf dem Boden krümmte: „Das war nicht alles. Sie kam noch öfter und flehte dich an mit ihr zu reden, aber du hast geschwiegen wie ein Grab. Du hast ihr alles bedeutet und dennoch hast du sie im Stich gelassen. Doch das Schlimmste kommt noch, denn weil du ihr keine Erklärung gabst, begann sie die Schuld bei sich zu suchen. Du weißt vermutlich gar nicht, dass sie damals alles aufgab und hinter sich ließ, auch ihre Familie, nur um zu dir zurückzukehren, ihre Seele war rein. Sie gab sich die Schuld an einfach allem, dass ihre Eltern sie zwangen mitzugehen, dass sie ihr Leben nicht in den Griff bekam, dass sie nicht aufhören konnte an dich zu denken und vor allem daran, dass du so unendlich enttäuscht von ihr warst.“
Was hatte ich nur getan?
„Sie verfiel in Depressionen und war furchtbar einsam. Erinner dich an den Tag, an dem sie den Zettel unter deiner Tür durchschob.“
„‘Es tut mir Leid‘, stand darauf geschrieben.“, flüstere ich.
Der Junge nickt: „Sie hatte sich an jenem Tag das Leben genommen und landete genau hier. Sie sah einen Fehler, wo keiner war, einen Fehler, den du getan hast und sie sich aufgebürdet hat.“
Erst jetzt bemerkte ich, dass sich die Kinderstimme viel erwachsener anhörte und auch, dass sich die Welt zu bewegen schien. Behutsam öffne ich die Augen, sehe zu dem Jungen und erstarre. Neben mir saß ich, genauso gekleidet mit Hut und Mantel und starrt mich ausdruckslos an. Wir sitzen hoch oben in der Gondel, während sich das Riesenrad knarzend weiterdreht.
„Das verstehe ich nicht.“, sage ich verblüfft. „Du sagtest hier kommen nur jene hin, die sich selbst schuldig machen, obgleich sie es nicht sind, warum sind wir dann hier?“
„Weil wir ihren Platz einnehmen, sie ist frei, denn der Fehler ist gefunden. Du hast zu büßen und musst durchmachen, was sie durchgemacht hat, denn immer auf ein Neues verschließt du deine Augen. Jede Nacht kommst du an diesen Ort und jede Nacht musst du diese Realität durchleben und immer wieder landest du unwissend hier, wo die Zeit einer Ewigkeit gleicht, um jedes Mal durchzuleben, dass du schuldig bist für ihre Qualen. Ich bin deine Erkenntnis, ich bin du und ich existiere, das tat ich schon immer, du verdrängst mich nur immer wieder, aber ich werde auf ewig da sein, hier sein und erneut als kleiner Junge auf dich warten, um durch deine Erkenntnis zu wachsen. Und nun erwache!“
Plötzlich stößt er mich von der Gondel. Ich falle!
Die Sonne blendet mich, während ich langsam die Augen öffne. Träge setze ich mich auf, greife nach meinem Buch und blättere wie jeden Morgen durch die Seiten. Jeden Tag hatte ich hineingeschrieben, jeden Tag geschrieben, ich wäre im Traum wieder auf dem Jahrmarkt gewesen und hätte das Riesenrad gesehen, doch dann endet auch der Traum, ich erinnere mich einfach nicht was weiter geschah.
Wer war der kleine Junge und was hatte das Riesenrad zu bedeuten?
Es erinnerte mich auf gewisse Weise an Lora. Ich öffne die Nachttischschublade und nehme das Foto, klappe es auseinander. Meine strahlende, fröhliche Lora. Warum hatte sie sich nur gegen mich entschieden…?
Sie schaufelte sich ihr eigenes Grab und legte sich hinein.
© Paola Baldin