top of page

Vindicta


Es war ein regnerischer Freitagnachmittag, an dem ich starb und doch lebte. Ich saß an meinem Fenster und starrte hinaus in die Gräue, die alles in sich verschlang und allem seinen Sinn raubte. Kein Leben war zu sehen, die Straßen leer, kein Licht in allen Häusern. Selbst die Raben saßen tot auf den Dächern und starrten akribisch durch mich hindurch, warteten auf etwas, von dem sie wussten, dass es geschehe und dennoch nicht wussten, was es sei. Ich nahm einen weiteren Schluck Whiskey und das Feuer, das längst in mir erloschen war, rann meine Kehle hinunter und ließ mich frieren.

„Noch eine Stunde, dann –“, plötzlich durchfuhr mich mitten im Reden ein unheimliches Stechen in der Brust, wo einst noch mein Herz verweilte. Ich hasste diese Schmerzen, nicht wegen ihrer selbst, sondern weil sie mich an Leben erinnerten, daran, dass etwas fehlen sollte. So schnell wie sie kamen, verschwanden sie auch. Zur Wand gedreht blieb ich stehen und starrte sie an, sah jede Macke, jedes kleinste Zeichen, zumindest dort, wo sie gerade nicht von beschriftetem Papier bedeckt war. Ich hatte sie tapeziert wie ich es wollte, jedes Papier schmückte eines der Buchstaben R, H, Z oder E. Es ergab keinen Sinn. Es sollte keinen ergeben. Denken ist sinnlos, deswegen hörte ich damit auf.

Fenster und Tür flogen auf, schlugen mehrmals gegen die Wand. Wind pfiff mir um die Ohren, die Blätter rissen von der Wand und peitschten mein Gesicht, ständig ein neuer Buchstabe: Z, R, E, H, R, Z, H, E, H, E, R, Z.

H, E, R, Z. Der Stich in meiner Brust.

„Sie ist da.“ Ich schaute aus dem Fenster und mein Blick schweifte über eine helle, fast leuchtende Gestalt, die vor dem Hause stehen blieb. Wie sinnlos es doch war, Hut und Rock anzuziehen, die Treppen hinunterzusteigen und auf sie zuzugehen. Doch wenn man keinen Sinn ergeben möchte, so muss man doch dem Sinnlosen folgen und so stand ich vor ihr, durchnässt vom Regen, der wie Blei auf mich heruntertropfte. Ein ständiges Pochen erfüllte die eisige Luft und schien seinen Ursprung in der Holzkiste zu haben, die in den Händen der Frau dort lag. Misstrauisch sah ich mich um, mein Blick traf den des Raben, der sich all die Zeit nicht bewegt und mich fortan angestarrt zu haben schien.

Ihre ruhige Stimme riss mich von ihm los: „Ich weiß, was du möchtest, doch ich gebe es dir nicht. Nicht umsonst sperrte ich es damals umgehend ein, denn ich wusste, dass du es eines Tages wieder gebrauchen willst, um gegen mich zu gehen. Ich habe vorgesorgt und es eingesperrt. Es ist allein meines, das Pochen deines Herzens ist nur mir bestimmt.“ Meine Mundwinkel hoben sich und es schien mir als würden meine Lippen ein Lächeln formen wollen. “Ich will es nicht.“, murmelte ich leise. Sie verstand wohl kein Wort und beugte sich mit fragendem Blick zu mir herüber.

„Ich will es nicht wieder!“, schrie ich mit aufgerissenen Augen und im selben Atemzug schlug ich ihr die Kiste aus den Händen, die in hohem Bogen durch die Luft flog und unzerstört auf dem Boden landete.

Erschrocken schaute sie mich an, denn in ihren Augen sah ich einen Mann, der nichts mehr zu verlieren hatte. Ohne jegliches Wort berührte ich ihre Brust mit meinen Fingerspitzen, die unter ihnen bebte. Ich hörte jeden einzelnen Schlag ihres Herzens. Poch. Poch. Poch.

„Ich will es nicht.“, flüsterte ich wieder. „Denn ich nehme deines!“

Meine Finger durchbrachen ihre Haut, das Gewebe, die Muskeln und ich packte ihr Herz, das in meinem Griff noch schlug und riss es ihr unter ihrem gequälten Schrei heraus, während die Raben mit lautem Gekrächze von den Dächern flogen. Zwischen meinen Fingern erstickte ihr Herz, lächelnd ließ ich es dumpf zu Boden fallen. Sie stand nun stumm mit großen Augen da und ging immer weiter in Flammen auf - durch ihre schon fast schwarze Haut schien nun ich beinahe zu leuchten - während mich die in Feuer gewandelten Regentropfen nicht einmal berührten.

Mein Blick schweifte nun zur Holzkiste herüber, anstatt derer nun der starrende Rabe einsam dort saß und sich kaum rührte.

„Vindicta.“, nannte ich ihn und ging von dannen, nichtsahnend, dass er mich fortan mein Leben lang begleiten würde.

© Paola Baldin

Folgen Sie mir!
  • Facebook Autorenseite ♥
  • Persönliches Profil
  • Instagram
  • Email
Aktuelle Einträge
bottom of page